Eine Zahl und die Naturkatastrophe, die folgte
Manchmal habe ich das Gefühl, ich trickse mich selbst aus, führe mich an der Nase herum, nur, damit sich irgendetwas ändert – ob diese Veränderungen nun gut oder schlecht sind, spielt in den meisten Fällen keine Rolle. Und ob ich mich nun selbst austrickse oder nicht, im Grunde dann auch nicht.
Es ist schon brutal, was eine einzige, winzige Zahl auf einer batteriebetriebenen Anzeige anrichten kann. Was für eine Naturkatastrophe sie in Köpfen entfacht und damit sowohl Gehirnzellen, als auch IQ- Werte verbrennt, die den betroffenen Menschen noch vor wenigen Minuten oder Sekunden das Überleben oder besser gesagt das Ergreifen lebensnotwendiger Entscheidungen ermöglichten. Vor vier Jahren hätte ich mir jetzt vielleicht selbst eine Backpfeife verpasst, womöglich einen Vogel gezeigt und anschließend den Notausgang raus aus diesem Dilemma, das sich bittersüß „meine Existenz“ nennt. Na gut, vor vier Jahren war ich auch noch nicht bis zu den Ellbogen in Zahlen, die von Kilogramm bis Kalorien reichen, eingesunken. Damals war alles gut – obwohl, so ganz stimmt das dann doch nicht – aber immerhin war es nicht das, was es jetzt ist, immerhin war es (, wenn auch nur geringfügig) besser. Es war ein Dasein ohne Ängsten vor Kalorien, Zunahmen und dummen, dummen Fragen, die man sich in Restaurants oder vor dem nächsten Urlaub immer wieder stellen muss. Und es war ein Dasein ohne Zwängen, deren Ursprung man unweigerlich in den Ängsten wiederfand. Vielleicht war es nicht gut, aber es war einigermaßen erträglich.
Seit über drei Jahren habe ich nun schon diese Essstörung. Und ich verstehe weder sie, noch mich. Im Grunde ist mir die komplette Situation, und wie ich mich von ihr befreien kann, unerklärlich. Denn obwohl ich sie so unendlich gerne loslassen würde, gelingt mir der entscheidende Schritt nicht. Warum ist die Frage, deren Antwort mir schuldig bleibt.
Außerdem ist es mehr als erbärmlich, wie notgedrungen ich auf Lösungen warte und hoffe, die es so nicht geben wird. Meine Finger schreiben endloslange Texte an Freunde und Therapeuten (und nicht zu vergessen für euch Leser), sie schreiben Worte und Sätze voller Fragezeichen und Hilferufen. Und was tun die noch geradeso übriggebliebenen Gehirnzellen? Sie gieren nach Kommentaren, Meinungen, irgendwelchen (manchmal absurden) Ideen und dem Hinhalten dieser letzten Rettungsleine, die noch nicht gezogen wurde. Die man nicht ziehen wollte, weil man dachte, es könnte ja noch schlimmer kommen und was tut man dann, wenn man sich nirgends mehr festhalten darf? Aber so Angeboten von anderen, da denkt man sich plötzlich, man sollte sie ziehen.
Man sehnt sich haltlos nach Aufmerksamkeit und der Hilfe, die man sich selbst nicht geben kann oder will. Oder was weiß ich. Der Wunsch ist es, sich die Entscheidungen und die Verantwortung abnehmen zu lassen, weil es ohne sie so viel schöner und leichter ist. Ich will nicht essen – „du musst essen“ – okay, ich esse. Aber nicht meinetwillen, sondern nur (na logisch) durch die Hand von außen, die mir den Löffel zum Mund und bis in den Rachen steckt und stößt und mich zum Leben „zwingt“.
Sind wir ehrlich, für mich fühlt es sich gut an.
Eine Zahl und die Naturkatastrophe, die folgte. Ein Plädoyer für und gegen die Krankheit, beides zur gleichen Zeit. Zu wissen, dass man nicht essen „kann“, weil man es „nicht verdient“ hat, weil man „extrem“ zugenommen hat, weil man „dick“ ist und „immer dicker“ wird. Natürlich ist mir bewusst, wie dumm und nichtsnutzig das alles ist – aber dieses Bewusstsein will mir einfach nicht weiterhelfen. Fast, als würde es, geboren in meinem Kopf und nicht in dem eines anderen, unbrauchbar sein.
Deine Texte …🙏🏽😍
LikeGefällt 1 Person
Deine Ehrlichkeit berührt mich!
LikeLike