Essen – eine Hassliebe?

Mein erster Beitrag in der Rubrik Recovery befasst sich mit Liebe – und mit Hass – und mit der immer wieder auftretenden Frage, was diese beiden Wörter mehr oder weniger von uns wollen. Oder was es noch besser auf den Punkt bringt, was sie vom Essen wollen.

Eine stark verbreitete Annahme ist wohl, dass alle Personen, die an einer Essstörung leiden, eine geheime Todesliste besitzen, an dessen erster Stelle in fetten Buchstaben „Essen“ gesetzt wurde. Nicht Betroffene gehen schnell und gerne davon aus, es wäre eine logische Schlussfolgerung, der Abscheu vor Nahrung den großen Teil der Schuld zuzuschieben. Hat das Essen die Schuld, dann haben wir nicht die Schuld. Ganz nach dem Motto: Hast du eine Essstörung und verweigerst du am laufenden Band Mahlzeiten, liegt es am Essen – es muss das Essen sein, die Bezeichnung dieser Krankheit ist doch schon Beweis genug!

Die (für mich traurige) Realität sieht allerdings ganz anders aus.

Obwohl ich mir während der letzten drei Jahre oft versucht habe, einzureden, ich würde Schokolade, Joghurt und co. nicht mögen und ich würde es aus eben diesem Grund nicht essen, wusste ich innerlich, dass ich mich selbst belog. Denn warum sollte jemand, der etwas abgrundtief hasste, sich jede freie Sekunde eines Tages mit diesem Thema beschäftigen? Warum war Nahrung und Kaloriengehalt jedes einzelnen Lebensmittel in meinem Kopf gespeichert und abrufbar, wenn ich es nur wollte oder auch nicht wollte? Die Gedanken sind manchmal präsenter als meine Familie, sie lassen mich vereinsamen. Ich kann mich mit Rezeptbüchern ausgezeichnet beschäftigen, schaue mir die Fotos an, lese mir die Zutatenliste ein paar Mal durch. Eine Freundin von mir, die ebenfalls an einer Essstörung leidet, hat einmal gesagt: „Essen wurde mit der Zeit mein Hobby. Schaue ich mir Fooddiaries auf YouTube an, fühlt es sich fast so an, als würde ich die Gerichte selbst essen und ich habe keinen Hunger mehr.“

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Die Wahrheit ist, ich sehne mich immer nach Essen – und diese Sehnsucht ist in manchen Momenten sehr schmerzhaft und erdrückend. Zu wissen, man ist hungrig auf diese eine bestimmte Sache, und zu wissen, sie ist für einen unerreichbar, das tut weh. Dann frage ich mich etliche Male und noch öfters, warum ich denn nicht einfach zubeißen kann. Ich beiße nicht zu, stattdessen verliere ich mich in Tagträumen und Vorstellungen, solange bis ich etwas anderes esse und mir einrede, es würde reichen.

Das Planen von Mahlzeiten ist ein großer Zeitvertreib. Oder ein Stress, der sich mit dem Zwanghaften aufstaut und irgendwann nicht mehr abzuwenden ist. Man ist in diesem Kreislauf festgefahren und verfolgt das eiserne Gesetz, jede Mahlzeit müsse perfekt sein und zelebriert werden. Schmeckt es nicht, hat es verloren, dann will man es nicht. Kalorien zählen und niederschreiben, alle Lebensmittel abwiegen (zur Sicherheit auch ein zweites Mal), selbst zubereiten und aufschneiden. Anschließend dekorieren und präsentieren, sich Zeit lassen, sich viel Zeit lassen.

Trotz der Tatsache, dass ich Essen hassen wollte (die Essstörung plapperte partout und ließ gesunden, guten Gedanken, die mich daran erinnern wollten, dass mich Essen nicht zwangsläufig dick machte, keinen Platz), behandelte ich es wie einen Gott. Ja, man kann fast sagen, ich betete es an. Wie man etwas anbetet, das dem Apfel Evas sehr nahekommt. Die verbotene Frucht. Ich will nicht, aber irgendwie will ich doch, ich darf nicht, naja, vielleicht ja doch(?) – genau das macht den Reiz aus. Ein Spiel mit dem Feuer, ich traue mich heran, um mich wärmen zu können, bin aber vorsichtig, um mich nicht zu verbrennen. Ich fantasiere stundenweise über Essen, es in meinen Magen lassen, tue ich es dann trotzdem nicht – und falls ich mich „hingebe“, dann muss ich „bestraft“ werden.

Generell hat das allerdings nichts mit Hass zu tun. Wir hassen Essen nicht. Wir vertrauen ihm bloß nicht, zumindest nicht ausreichend, um diesen Wahn loszuwerden. Der Kern einer Essstörung liegt ganz woanders, weshalb auch eine Behandlung nie nur auf eine Stabilisierung des Gewichtes oder der Nahrungsaufnahme abzielen sollte. Nahrung ist nur ein Symptom, im Grunde hätten wir genauso gut Alkoholiker werden können – der winzige Unterschied liegt schließlich beim Suchtmittel, das eine einfache Symptomverschiebung in eine ganz andere Richtung lenken könnte.

Ja, vielleicht will man abnehmen und dünn werden. Und jede verdammte Zeitschrift im Handel erklärt, dass Essen „böse“ ist und es dick macht (was nicht stimmt). Aber die Frage, der man auf den Grund gehen muss, ist, warum man das alles will? Warum man sich bis zum Geht-Nicht-Mehr selbst kaputt macht und seinem Körper Dinge zumutet, die er nicht verdient hat? Warum man sich bis zur Schwelle des Todes drängt, Freunde vergisst und Familie enttäuscht?

Ich bezweifle, dass man es tut, weil man Essen hasst.

Ich bezweifle, dass Essen die Medizin für alle Probleme schlechthin ist.

Ich hasse Essen nicht, das habe ich nie getan.

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5 Kommentare Gib deinen ab

  1. Ein wundervoller Beitrag, bei dem ich bei vielen Sätzen irgendwo in meinem inneren spüren musste, dass du einfach nur Recht hast. Du hast so Recht. Danke, dass du das teilst und dabei freundlich hinterfagst, mal ein paar Gedanken anregst und Recht hast.
    Ganz viel Liebe für dich 💖
    Gruß

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    1. Vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Im Grunde ist es genau das, was ich erreichen möchte – Gedanken anregen ♥ Freut mich, dass ich das konnte:)
      deine Mary

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  2. Hannah sagt:

    Wow, ein wirklich toller Beitrag. Es stimmt, Essen wird zum Hobby, der Mittelpunkt. Ich erkannte mich in jedem Satz wieder. Zwar ist es bei mir nicht mehr so extrem und ich behaupte einmal, wieder halbwegs ’normaler‘ zu essen, denke ich trotzdem noch viel zu viel über Essen nach.
    Danke für diesen Beitrag. Ich finde deinen Blog echt toll und freue mich auf weitere Beiträge. Lass dich nicht verunsichern und schreibe worauf DU Lust hast, es ist dein Werk.
    Ganz viel Liebe☀❤

    Gefällt 1 Person

  3. Iris sagt:

    Ein sehr guter Beitrag über eines der häufigsten falschen Urteile von Nicht-Betroffenen über Essstörungen! Das ist wirklich schwer nachzuvollziehen, warum man essen nicht hasst. Ja sich sogar danach sehnt und davon träumt, aber es gleichzeitig unüberwindebar schwer ist, es sich zu geben.

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  4. Evilcat1909 sagt:

    Joa, Essen ist auch für mich sehr wichtig…. ich träume von den Sachen, die ich nicht essen darf (oder will??). Manchmal träume ich, ich würde eine ganze Torte essen, oder eine ganze Schachtel Donuts, und dabei habe ich ein total schlechtes Gewissen. Dann wache ich auf und bin froh, dass es nur ein Traum war.

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